Kerstin Flasche

"Anthropogene Mineralien in den Spiegeln der Kunstkammer. Von geologischer Kolonialisierung zur musealen Dekolonialisierung?"

Eine hölzerne Figur präsentiert eine der wertvollsten Gesteinsstufen ihrer Zeit: eine Smaragdstufe, die 1581 in die Sammlung des Grünen Gewölbes Dresden gelangte. Im Sommer 2019 wird die Smaragdstufe von dem Leipziger Künstler Bertram Haude temporär durch eine neue Stufe ersetzt, bestückt mit sogenannten anthropogenen Substanzen. Anthropogen bedeutet, dass die Entstehungsgeschichten dieser Substanzen aufs Engste mit menschlichem Wirken im Geosystem verwoben sind. Zumeist handelt es sich um unbeabsichtigte Reaktionen auf menschliche Aktivitäten im Bergbau, während andere sogar industriell produziert werden.

Chemisch gesehen sind diese anthropogenen Substanzen Mineralien. Doch sie sind weder nur „natürlich“ noch vollkommen „künstlich“. Das macht die hier gezeigten Fundstücke zu einem zeitgenössischen Kuriosum. Diese Mineralien fordern Wissenschaftsparadigmen heraus. Sie rütteln an unerschütterlich geglaubten Ordnungen, an Eindeutigkeit, Trennbarkeit.

Die Trägerfigur ist im 18. Jahrhundert aus einem Potpourri von Merkmalen angelegt, die aus europäischer Perspektive als „fremd“ und „exotisch“ galten – dunkle Hautfarbe, „afrikanisierte“ Physiognomie, Tätowierungen sowie Schmuckstücke, die hingegen als Repräsentationsformen indigener Kulturen Nordamerikas gedeutet wurden. Geradezu eklektizistisch kulminieren schablonenhaften Merkmale in einer Figur, die zur Typenfigur der „Andersartigkeit“ in der Sammlung eines europäischen Herrschers wird. Das Exponat ist von kolonialherrschaftlichen Mechanismen durchdrungen – die Trägerfigur, wie auch die aus kolumbianischen Minen importierte Smaragdstufe.

Die Intervention versieht das Exponat mit noch einer weiteren kolonialen Dimension: der geologischen – sind die anthropogenen Mineralien doch die Produkte globaler, geologischer Kolonialisierung. Interventionen in Sammlungspräsentationen ermöglichen eine kritische Kontextualisierung von Artefakten in zeitgenössischen Diskursen. Postkoloniale Fragestellungen werden anvisiert, jedoch nicht über ethnologische Zugänge – mit Blick auf die Figur –, sondern über geologische – mit Blick auf das mineralische „Rohmaterial“.

 

Kerstin Flasche ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und seit 2016 Kuratorin in der Galerie Stephanie Kelly. Von 2006 bis 2010 studierte sie „Kunstgeschichte“ an der Philipps-Universität Marburg und von 2010 bis 2014 „Kunst- und Bildgeschichte“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Unter dem Arbeitstitel „anorganisiert – wachsende Kristalle und reaktive Mineralien in der Zeitgenössischen Kunst“ promoviert sie über Geschichte und Theorie der Materialästhetik, mit Schwerpunkt auf mineralische Naturalien als nicht-menschliche Faktoren. 2019 realisierte sie mit dem Künstler Bertam Haude die temporäre Intervention „Mohr mit Mineralien – Zeitgenössische Perspektiven auf ein historisches Objekt“ mit interdisziplinärem Symposium im Historischen Grünen Gewölbe Dresden. Ihre Forschungsinteressen liegen in transdisziplinären Methoden, queerfeministischen, postkolonialen und posthumanen Theorien, sowie in kuratorischen Praxen.

 

 

"Anthropogenic minerals in the mirrors of the art chamber. From a geological colonisation to the decolonisation of a Museum?"

A wooden figure presents one of the most precious stone specimens of its time: a cluster of emeralds that came into the collection of the Green Vault in Dresden in 1581. Im Summer 2019 the Leipzig artist Bertram Haude has temporarily replaced the emerald cluster with a new cluster, decorated with so-called anthropogenic substances. Anthropogenic means that the formation histories of these substances are intertwined with human influence on the geosystem. Most are inadvertent reations to human activities in mining, while others are actually produced industrially.

With regard to their chemical structure, anthropogenic substances are minerals. But they are neither merely “natural” nor entirely “artificial”. This makes the shown objects, into a contemporary curiosity. These minerals challenge scientific paradigms. They are rocking the unswervingly believed orders, unambiguity, separability.

The wooden figure is arranged out of a potpourri of features, which, from a European perspective, were perceived as “foreign” and “exotic” – dark skin color, physiognomy that was read as “African”, tattoos and jewellery which, by contrast, were interpreted as representative forms of indigenous cultures from the Americas. Nothing short of eclectic, these stereotypic features culminate in what becomes the exemplary figure of “otherness” in the collection of a European ruler. The exhibit is steeped in mechanisms of colonial rule – both the figure as well as the imported emerald cluster itself.

The Intervention lends the exhibition piece an additional colonial dimension: the geological, for the anthropogenic minerals are indeed the products of global, geological colonization. Interventions in collections make it possible to contextualize critical aspects of artefacts in contemporary discourses. Postcolonial questions are in focus, yet not about ethnological approaches with a view to the figure, but rather about geological approaches with a view to the mineral “raw material”.

 

Kerstin Flasche has been a research assistant at the Academy of Fine Arts Dresden since 2014 and curator at Stephanie Kelly Gallery since 2016. From 2006 to 2010 she studied "Art History" at the Philipps-Universität Marburg and from 2010 to 2014 "Art and Visual History" at the Humboldt-Universität Berlin. Under the working title "anorganisiert – wachsende Kristalle und reaktive Mineralien in der Zeitgenössischen Kunst" ("inorganised – growing crystals and reactive minerals in contemporary art"), she is doing her doctorate on the history and theory of material aesthetics, with an emphasis on mineral materials as non-human factors. In 2019 she realised the temporary intervention "moor with minerals"- contemporary perspectives on a historical object" in cooperation with the artist Bertam Haude with an interdisciplinary symposium in the Historical Green Vault Dresden. Her research interests include transdisciplinary methods, queerfeminist, postcolonial and posthuman theories, and curatorial practices.